Eröffnungsrede von Mag. Ulrich Plieschnig am 17.11.2006
Vernissage Wolfgang Reichmann, Denkraum Bacherplatz
Wir leben in einer Zeit der digitalen Bilderflut. Wichtiger als die Suche nach Inhalten wird das Betätigen der Löschtaste, um Platz zu machen für weitere Bilder. Auf dem Display erscheint die Gegenwart in leicht verzögerter Verkleinerung.
In der Gleichschaltung von Realität (Ereignis) u. Medium(Abbild) wird die Realität selbst zum Medium, also zum Bild, das Interesse an einer Nachhaltigkeit des Bildes vergeht.
So blicken wir einer Fotografie entgegen, der paradoxerweise die Bilder abhanden kommen, weil der Akt des Fotografierens wichtiger geworden ist als die Fotografie selbst, und eine Archivierung mit immer neuen Speicherkapazitäten quantitativ von solcher Größe möglich ist, dass die Bilder niemand mehr sehen kann oder will.
Wolfgang Reichmann hat mit all dem sehr wenig zu tun!
Er ist ein Fotokünstler, der – zumindest was seine Fotogramme betrifft - ohne Kamera auskommt und für den Fotografie nur insoferne von Relevanz ist, als dass er sich ihrer Technik und ihrer Apparaturen bedient.
Jedes seiner Fotogramme ist ein Unikat, sorgfältig auf qualitativ hochwertigem Barytpapier belichtet, ausgewaschen und fixiert, danach auf Aluminiumplatten kaschiert.
Ein wesentlicher Faktor seiner Arbeit ist die Zeit, die er hat, die er braucht, die er sich nimmt!
Belichtungszeiten von mehreren Wochen sind keine Seltenheit. Dabei „überlistet“ Wolfgang Reichmann die Chemie, indem er die für schwarz/weiß gedachten unterschiedlichen Barytpapiere ausbelichtet, d.h. er belichtet sie so lange, bis sich das nun zu einem malerischen
Grau-, Grün-, Gelb-, Braun-, Rotton gewandelte Papier nicht mehr verändert.
Eine Rolle spielt noch die Luftfeuchtigkeit und natürlich der künstlerische Input, mit dem Wolfgang Reichmann seine Fotogramme komponiert.
In den hier hauptsächlich zu sehenden „bag pieces“ (als Teil seiner „Bilder aus einer Evidenz des Realen“) bekommen banale Plastiksackerln eine transzendentale Aura u. verselbständigen sich malerisch im Raum. Sie sind nur noch Schatten ihrer selbst, der aber durch eine lebendige Gestik beseelt wurde. Manche scheinen zu glühen, andere geben kryptische Schriften und Zeichen preis, wieder andere sind von den Konturen her nur noch erahnbar.
Wenn Wolfgang Reichmann ein Plastiksackerl aus seinem reichhaltigen Fundus auf das Fotopapier legt, hat man das Gefühl, als benutzte er dieses einem Pinsel gleich um seine der Malerei sehr nahen fotografischen Arbeiten zu erschaffen.
Als ich diese Fotogramme von Wolfgang Reichmann das erste Mal im Original sah, fiel mir
Marcel Proust’s Hauptwerk „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ ein. Auch darin legt sich als subtile Wahrnehmungsebene eine kraftvoll-zufriedenstellende Befindlichkeit, ein wohliges Gefühl über die unspektakuläre, jedoch sehr eindrücklich formulierte unentrinnbare Handlung.
Wäre es möglich, sich außerhalb seines eigenen Bewusstseins zu stellen und die Welt von dort aus bewusst wahrzunehmen (z.B. wenn man gerade gestorben wäre), dann könnte sie so aussehen wie Wolfgang Reichmanns „bag pieces“, mit denen er uns eine archaische und intuitive Form der Wahrnehmung offenbart, an die wir uns erst wieder annähern müssen.
Ulrich Plieschnig
November 2006
Mag. Ulrich Plieschnig, Bildender Künstler, Mitbegründer des DENKRAUMs